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Thüringen vor Schicksalswahl: Wird das Land unregierbar?

Thüringen vor Schicksalswahl: Wird das Land unregierbar?

upday.de |

Spitzenkandidaten, die sich bei gemeinsamen Auftritten anschreien, zornige Menschen auf den Straßen und nun noch die Debatte über den Anschlag in Solingen: Wenige Tage vor dem Wahlsonntag in Thüringen ist die Stimmung aufgeheizt, das Land wirkt polarisiert, mit jeder neuen Wahlumfrage steigt die Nervosität der Wahlkämpfer. Schon ist von einer Schicksalswahl die Rede, die die politischen Verhältnisse in dem kleinen Freistaat mit 2,1 Millionen Menschen grundlegend ändern könnte – mit bisher noch nie praktizierten Koalitionen, oder es kommt gar zur Unregierbarkeit. Und das ein Jahr vor der Bundestagswahl.

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Umfragen prophezeien Rechtsruck

In aktuellen Umfragen liegt die AfD mit ihrem Rechtsaußen Björn Höcke stabil mit 30 Prozent weit vor den anderen Parteien. Mit gut einem Drittel der Sitze könnte sie im Landtag nicht nur die Wahl von Richtern blockieren. Dass keine der anderen Parteien mit der AfD zusammenarbeiten will, bedeutet zwar Koalitionsunfähigkeit, ficht Höcke aber nicht an. «WIr wollen regieren», sagt der 52-Jährige, der wegen der Nutzung einer Nazi-Parole vor einigen Wochen in erster Instanz zweimal zu Geldstrafen verurteilt wurde.

Nach dem Messerangriff bei einem Stadtfest in Solingen mit drei Toten und mehreren Verletzten versucht die AfD, das Thema für ihren Wahlkampf zu nutzen. Höcke teilte bei X eine Kachel mit einem blutigen Messer und einer Wahlaufforderung, zudem kursiert im Netz der Hashtag «Höcke oder Solingen».

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Der Politikwissenschaftler Oliver Lembcke von der Ruhr-Universität Bochum sagt, der Vorfall könne als symbolisches Ereignis dienen, «um für einen Kipppunkt in der öffentlichen Meinung zu sorgen». Seiner Einschätzung nach treffen eine «jüngst intensive Messerdiskussion und das aktuelle Behördenversagen» auf Terrorismusangst und Ablehnung gegenüber der Migrationspolitik bei weiten Teilen der Bevölkerung. «Und es wäre wenig überraschend, wenn die AfD Hauptnutznießer einer solchen Stimmungslage würde.»

Die bisherigen Umfragen wurden vor dem Anschlag durchgeführt – damit ist unklar, ob die AfD weiter zulegen kann. Wie er regieren will, lässt Höcke offen. Eine Brandmauer dürfe es in einer Demokratie nicht geben, sagt er nur. Doch die hat CDU-Chef Friedrich Merz bei einem Wahlkampfauftritt mit CDU-Spitzenkandidat Mario Voigt in Erfurt nochmals hochgezogen. Höckes Landesverband wird seit 2021 vom Landesverfassungsschutz als gesichert rechtsextremistisch eingestuft.

Regierungswechsel vorprogrammiert

Chancenlos scheint nach den Umfragen die rot-rot-grüne Minderheitskoalition des nach wie vor beliebten Ministerpräsidenten Bodo Ramelow (Linke). Die Linke liegt bei 13 bis 14 Prozent, die SPD bei sechs bis sieben Prozent und die Grünen wären mit drei bis vier Prozent raus aus dem Landtag. Damit steht in jedem Fall ein Regierungswechsel in Erfurt an. Aufgegeben hat Ramelow nach eigenen Angaben aber längst nicht.

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Das Credo des 68-Jährigen: «Ich möchte meinen Beitrag leisten, dass die AfD nicht in die Lage versetzt wird, das Parlament zu erpressen.» Ramelow, der wie eh und je täglich durch Thüringen tourt, hält zu anderen Parteien die Tür offen. Und natürlich würde er ans Telefon gehen, wenn ihn Voigt oder Sahra Wagenknecht nach dem 1. September anrufen.

Völlig neues Koalitionsmodell möglich

Viele Regierungsoptionen gibt es nach den Umfragen nicht. Rein rechnerisch könnte es zu einem noch nie dagewesenen Modell kommen. CDU-Spitzenkandidat Voigt müsste dafür mit der Ex-Linken und ehemaligen Eisenacher Oberbürgermeisterin Katja Wolf vom Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) anbandeln und SPD-Chef und Innenminister Georg Maier in das recht experimentelle Bündnis holen. Die erst vor wenigen Monaten zum BSW gewechselte Wolf könnte damit so etwas wie der Joker nach der Wahl werden.

Nach den Umfragen kommt die CDU, die nach zehn Jahren Opposition wieder in die Staatskanzlei drängt, auf 21 bis 23 Prozent, das erst Anfang des Jahres gegründete BSW auf 17 bis 20 Prozent. «Das wird eine wahnsinnig knappe Angelegenheit», vermutet Voigt. Eine Zusammenarbeit mit der Linken von Ramelow lehnt er ab. BSW-Bundeschefin Wagenknecht, die eifrig im Landtagswahlkampf mitmischt und von vielen Plakaten lächelt, hat bereits Hürden aufgebaut.

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Dabei geht es um die Forderung, Thüringen müsse sich gegen Raketenstationierungen der USA und eine Abkehr von der bisherigen deutschen Ukrainepolitik einsetzen. Experten erwarten, dass man sich bei dem Thema schon einigen könnte, zumal es ohnehin nicht auf Landesebene entschieden wird. Es gibt aber auch Befürchtungen, Wagenknecht wolle mit ihrer Partei noch gar nicht Teil einer Landesregierung sein – um ohne Blessuren in den Bundestagswahlkampf einzusteigen.

Wagenknecht am Verhandlungstisch

Der Erfurter Politikwissenschaftler André Brodocz sieht beim BSW eher den Willen, Teil einer Regierung zu sein, würde aber auch ein Modell nicht ausschließen, bei dem das BSW eine Minderheitsregierung vielleicht nur toleriert. Es komme auch darauf an, ob die neue BSW-Fraktion «eine eigene Selbstständigkeit entwickelt».

Wagenknecht will bei möglichen Koalitionsverhandlungen in Sachsen oder Thüringen mit am Verhandlungstisch sitzen und sich auch selbst einbringen, wie sie in mehreren Interviews betonte.

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Voigt, der mit dem BSW überhaupt erst eine Regierungsoption hat, ist in der Zwickmühle. Solange Wagenknecht versuche, von außen «rein zu regieren», habe er ein Problem, sagt Voigt. Er setze sich im Zweifelsfall mit Wolf an einen Tisch. «Aber die Thüringer entscheiden ihre Fragen selbst.» Ohnehin gilt eine Liaison von CDU, BSW und SPD als heikel. Wagenknecht war einst SED-Mitglied und galt später als Ikone der kommunistischen Plattform in der Linken. «Es gibt mit Sicherheit CDU-Leute, denen das nicht gut gefällt», so Brodocz.

Ganz eng wird die Regierungsbildung in Thüringen, sollte die 48 Jahre alte Wolf mit dem BSW doch an der CDU vorbeiziehen. Politisch wäre das nach Meinung von Brodocz eine «unglaubliche Gewichtsverlagerung». Nach einer Ministerpräsidentin Wolf gefragt, sagt Voigt: «Ich glaube nicht, dass das funktioniert.» dpa/gf

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